Im Beitrag wird zuerst die neue Stellung der Dokumentarliteratur in der gegenwärtigen Kultursituation kurz umrissen und das Stoff-Form-Verhältnis in dieser Literaturgattung punktiert erläutert. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die autobiographischen Texte, die über die sowjetische Zeit reflektieren – von den damals illegal verfassten Erinnerungen bis zu den Darstellungen jener Vergangenheit aus der heutigen Sicht. Der Verfasserin geht es darum, den Wandel der Formen des Selbstbewusstseins des Autors/Erzählers aufzuzeigen. So manifestiert sich der Autor/Erzähler der autobiographischen Texte von D. Grinkevičiūtė, J. Lukša-Daumantas als ein sich gegen das System auflehnendes, über freien Willen verfügendes Individuum. In den Tagebüchern von V. Kubilius, Memoiren von L. Tapinas, A. Baltakis reflektiert man über die Identitätskrise eines angepassten Individuums. Schließlich wird in den Erinnerungsschriften von L. Šepetys, dem ehemaligen Vertreter der sowjetischen Nomenklatura, oder von E. Mieželaitis über das Verhältnis zum unabhängigen Litauen nachgedacht. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die heutige Gesellschaft ihr Verhältnis zum sowjetischen Kulturerbe unterschiedlich bewertet. Die Dokumentarschriften der Teilnehmer der Resistenz erfreuen sich positiver Schätzung, dagegen wird ein großer Teil des sowjetischen Erbes, in dem die Anpassungsstrategie dominiert, verschieden beurteilt. Einerseits meint man, dass solche Literatur völlig bedeutungslos ist, da sie die Anpassungsprozesse gefördert und erleichtert hat. Andererseits wird behauptet, dass auch die zur Anpassungszone gehörende Kultur keinesfalls gleichartig war: bereits am Anfang der 50er Jahre begann sich in ihr eine gegen die Ästhetik des sozialistischen Realismus gerichtete, alternative Position herauszukristallisieren, die an der Moderne und an der westlichen Mentalität orientiert war. Die Verfasserin des vorliegenden Beitrags vertritt auch die Meinung, dass das sowjetische Kulturerbe differenziert zu bewerten ist.